Titel | Happy-End |
Autorschaft | Peter Tscherkassky |
Datum | 1996 |
Land | Österreich |
Technische Daten | Farb-Tonfilm (35mm & 16mm), Länge: 10:33 Min. |
Mediales Genre | Found-Footage-Film |
Bereich | Experimentalfilm |
Ausgangsmaterial | Bild: Private Super-8-Filme, Ton: Annie Cordy: Bonbons, Caramels, Esquimaux, Chocolats (1953), Michel Chion: Requiem Aeternam (1973) |
Quelle |
Das Ausgangsmaterial des Found-Footage-Films Happy-End besteht aus vielen Stunden Super-8-Heimkino-Film, das bei einem Altwarenhändler entdeckt wurde. Es enthielt Aufnahmen von Urlauben an verschiedenen Orten und Partys mit Freunden. Peter Tscherkassky wählte für seinen Film ausschließlich jene Szenen, in denen stets nur die Eheleute Elfriede und Rudolf – die Namen der Eheleute waren der Beschriftung der Filmdosen zu entnehmen – beim Feiern (Weihnachten, Silvester, Geburtstage) zu sehen sind. Die beiden konsumieren scheinbar unablässig und in ausgelassener Manier diverse Alkoholika sowie Kuchen, sie prosten sich zu, geben einander Küsschen, deuten Sexualität an und bieten eine Tanzeinlage.
Tscherkasskys Remix weist eine deutliche Zweiteilung auf: Der erste Teil, circa Zweidrittel des Films, kombiniert motivisch ähnliche Szenen, wobei das jüngste Material am Anfang steht, das älteste am Ende – mit dem Effekt, dass sich das Paar im Verlauf des Films allmählich verjüngt. Unterlegt ist dieser erste Teil mit dem sehr schwungvollen französischen Schlager Bonbons, Caramels, Esquimaux, Chocolats (1953). Bis zum Beginn des zweiten Teils wird der Song dreifach wiederholt, was dem stereotypen Verhalten der beiden Protagonisten entspricht. Tscherkassky hat den Song mit einem dezenten Hall und einem kurzen Echo versehen. Diese akustische Raumvergrößerung fügt dem Lied eine nervöse Grundspannung hinzu wie auch das Hörbild einer durch Alkoholgenuss gefilterten Wahrnehmung vermittelt wird.
Im letzten Drittel von Happy-End verdichtet sich die Bild- und Klangästhetik und führt zu einer Brüchigkeit in der Stimmungslage: Als Kontrapunkt zum Schlager wurde eine Passage aus der im Geiste der Musique Concrète entstandenen Toncollage Requiem Aeternam (1973) von Michel Chion hinzugefügt, während synchron der Echoeffekt des Schlagers an Intensität gewinnt. Der auf der Tonebene vorgenommene Wechsel korrespondiert auf der Bildebene mit einer Überlagerungsästhetik: Tscherkassky collagiert Elemente aus der Frühphase des Werkschaffens von Elfriede und Rudolf mit späteren Aufnahmen. Er kombiniert Schwarzweiß-Bilder mit Farbaufnahmen, lässt Teile rückwärts laufen. Zugleich legt sich eine Unschärfe auf die Bilder und ein Solarisationseffekt irrealisiert die Szenerie. In den bürgerlichen Kosmos ist Dionysos eingebrochen. Ebenso wie Elfriede von Tscherkassky in eine ausgelassene Mänade verwandelt wird, geraten die Filmbilder in ekstatische Erregung. Ton- und Bildebenen durchmischen sich und gehen allmählich in Rauschen über, das am Ende zur alleinigen Tatsache wird, wenn nur noch das Knistern einer abgelaufenen und abgenutzten Schallplatte zu hören ist und in der letzten Einstellung Elfriede zurückbleibt, gleichsam gespensterhaft im Tanz mit ihrem Double.
Tscherkasskys Ästhetik der Montage und Collage lässt sich als ein Verfahren der Überhöhung und gleichzeitig der Subversion beschreiben: So sehr die gefundenen Super-8-Filme Dokumente tatsächlicher Geschehnisse sind, so sehr entheben sie sich ihrer Indexikalität und erlangen aufgrund der künstlerischen Entstellung symbolische Qualitäten. Tscherkassky (in: von Reden 2012) vergleicht seine Filmarbeit mit der Traumarbeit, wie sie Sigmund Freud aufgefasst hat. Mittels Verdichtung und Verschiebung wird das Ausgangsmaterial von seinem Ursprung entfremdet, wodurch „plurale Bedeutungen aufgebaut“ werden. Diese Transformation des heterogenen Materials – unprofessioneller Super-8-Film, populärer Schlager und anspruchsvolle elektroakustische Experimentalmusik – zielt auf einen Abbau von ursprünglich zugewiesenen Materialbedeutungen und rigiden Vorstellungen über Hoch-, Pop- und Avantgarde-Kultur. Die derart erzeugten semantischen Effekte betreffen zwei thematische Ebenen – die des mythischen Erzählens und die der Selbstreferentialität:
Das mythische Erzählen vollzieht sich im Modus des Gegensinns: Einerseits lässt sich Happy-End quasi-soziologisch lesen. Der Film zeigt in komprimierter Form den Habitus des feiernden Kleinbürgers, der zu Nachkriegswohlstand gekommen ist. Das freigelegte Verhaltensklischee der konsumistischen Entsublimierung wird als epochales Muster der Fresswelle während des Wirtschaftswunders erkennbar und betont eine orale Wiedergutmachung nach der Zeit des Hungerns. Andererseits ruft Tscherkassky in Absetzung von der soziologischen Perspektive und in allegorisierender Absicht die Kultur des barocken Carpe diem auf: „My film shows a couple having big fun and enjoying life in a very particular, very Austrian kind of way. I wanted to give them a kind of resurrection. You might summerise my message to the audience as ‚enjoy your life in an ecstatic way, and don’t forget that it will end.‘“ (Hardstaff/Wells 2008, 92)
Beide Mytheme sind nicht nur künstlerischer Selbstzweck, sie fungieren auch als Bestandteil der cinematischen Selbstreferenz. Es gehört zum ästhetischen Prinzip von Found-Footage-Praktiken, das Material nicht in erster Linie für filmische Illusionsbildungen zu benutzen, es zielt auch auf eine Sichtbarmachung des Medialen selbst. Der Remix betreibt die Selbstthematisierung, indem sowohl die formalen Elemente des Filmischen als auch der größere Rahmen der Kinokultur reflektiert werden. Neben formalästhetischen Aspekten (z.B. Hochwertfilmmaterial, professionelle Kamerahandhabung) wird vor allem ein wichtiger Aspekt des Illusionskinos – der Realismuseindruck des Schauspiels – vom Ehepaar unterlaufen. Beide Akteure scheinen die Grenze zwischen Film und Leben überschreiten zu wollen, wenn wiederholt die Kamera mit Gesten und Blicken so adressiert wird, als handle es sich um einen anwesenden Mitfeiernden. Alexander Horwath (2005, 37) hat dieses Hereinnehmen der Kamera in die Szene als signifikante Leerstelle identifiziert: „Sie wenden sich an einen unsichtbaren Dritten – an sich selbst als spätere Betrachter? An Freunde und Verwandte? Oder sprechen sie zur Geschichte selbst – zu einem undefinierten ‚Später‘, das ihr spezifisches ‚Damals‘ reaktualisieren soll.“ An diesem Punkt gewinnt das Hauptmotiv des Films seine besondere Signifikanz – die Oralität.
Vinzenz Hediger (2001, 68) macht auf den Tatbestand aufmerksam, dass das Essen – vor allem von Popcorn – in Deutschland seit den 1970er Jahren zum Rezeptionsritual beim Filmeschauen gehört. In den USA hat die Kolonialisierung des Kinos durch das alimentäre Begleitprogramm bereits in den 1930er Jahren durchgreifend stattgefunden (vgl. Geiling 2013). Das kulinarische Unterhaltungskino mit seiner Tendenz zum Special Effect, zu erotischer Anspielung, zum Affektiven und zur Identifikation scheint jene regressiven oralen Wünsche zu aktivieren, die in der Dunkelheit des Kinoraums ungehindert befriedigt werden können. Die inzwischen konventionalisierten Begriffe wie Eye Candy Cinema oder Popcorn Movie erfassen das Zusammenspiel aus visueller und oraler Lust.
Die Protagonisten in Tscherkasskys Film gewinnen vor dieser kulturellen Kulisse die Größe von Spiegelfiguren: Diese, auf ein scheinbar unersättliches Verhalten reduzierten Charaktere geben das Bild oraler Fixiertheit im Kino wieder, das im Verschlingen von Nahrung und Filmbildern seine partialtriebhafte Entsprechung hat. Auch wenn es bisher keine fundierte psychoanalytische Theorie zum Essen und Trinken im Kino gibt, so liefert bereits eine grob skizzierte Phänomenologie der cinematischen Rezeption einen Hinweis auf ihre Besonderheit: Während der Sehsinn normalerweise eine distanzierende, registrierende, informierende und orientierende Funktion erfüllt, um eine theoria (griech. ‚schauen‘) der Wirklichkeit zu liefern, wird diese im Kino suspendiert oder doch geschwächt, um eine identifikatorisch-fühlende Funktion zu übernehmen. Das Filmschauen folgt der Logik der imaginären Annäherung und der Einverleibung. Die Regression des Zuschauers auf die Position des gefesselten, blickfaszinierten Höhlenmenschen und die damit verbundene Potenz des Mediums, Begehren zu wecken und imaginär zu befriedigen, ist von der Filmtheorie wiederholt bemerkt worden (z.B. Baudry 1999, 390). In einem Aufsatz entwickelt der Freud-Schüler Otto Fenichel (1935, 561) einige Gedanken zum Verhältnis von Sehen und Identifizierung, zur „Wirksamkeit der symbolischen Gleichung Schauen = Fressen“. Zwar geht Fenichel nicht auf die Kinosituation ein, doch lässt sich seine Darstellung des Einverleibungsprozesses übertragen: Nahrungsaufnahme und die „okulare Introjektion“ (Ebd. 565) sind Modalitäten des Mitfühlens, binden somatische und psychische Erregung zusammen. Der Soundtrack von Tscherkasskys Film – Bonbons, Caramels, Esquimaux, Chocolats – erlangt vor diesem Hintergrund die Funktion eines Zeichengebers, denn er verweist auf den oralerotischen Kern des Kinos. Der Schlagertext erzählt von einer charmanten jungen Frau, die als Platzanweiserin und Süßigkeitenverkäuferin in einem Kino arbeitet und aufgrund ihrer erotischen Ausstrahlung soviel Trinkgeld einheimst, dass sie am Ende Besitzerin des Kinos wird. Der Song bringt kürzelhaft zum Ausdruck, worum es geht: Das Spiel mit den Süßigkeiten und den erotischen Konnotationen weisen die Zuschauer als orale und okulare Lüstlinge aus, die zu willfährigen Objekten des raffinierten Mädchens werden. Was der Song in frivoler Heiterkeit präsentiert, grundiert auf ironisch humorvolle Weise auch Happy-End, der die Regression und damit Lust zur Aufführung bringt.
Bei aller Lustbarkeit, die Happy-End entfaltet, Tscherkassky lässt seinen Film ambivalent – in „Freude und tiefem Schmerz“ (2005, 149) – enden: Der freeze frame, der rauschend ins Nichts wabert, zeigt Elfriedes verzerrtes Gesicht, ihre zusammengekniffenen Augen und den aufgerissenen Mund, deren Ausdruck sowohl höchste Lust als auch Verzweiflung anzeigen. Dem dionysischen Ausagieren des Films auf Form und Inhaltsebene unterliegt jene Gewissheit vom Ende, das nicht nur als happy erfahren wird. Im Hinblick auf die Memento-Funktion ist Happy-End aber vor allem als Ausruf des Filmlieberhabers zu lesen: Das glückliche Ende ist eines des Films als Medium, das Überleben des Filmstreifens, der in der poetischen Dunkelkammer Peter Tscherkasskys wieder auferstanden ist.
Baudry, Jean-Louis: „Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Kursbuch Medienkultur, hrsg. von Claus Pias, Joseph Vogl u. Lorenz Engell: Stuttgart: Metzler 1999, S. 381–404.
Fenichel, Otto: „Schautrieb und Identifizierung“, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 21 (1935) 4, S. 561–583.
Geiling, Natasha: „Why Do We Eat Popcorn at the Movies?“ (3. Oktober 2013), in: Smithsonian.com: Arts-Culture, 03.10.2013.
Hardstaff, Johnny u. Paul Wells: Re-Imagining Animation. The Changing Face of the Moving Image, Lausanne: AVA 2008.
Hediger, Vinzenz: „Das Popcorn-Essen als Vervollständigungshandlung der synästhetischen Erfahrung des Kinos. Anmerkungen zu einem Defizit der Filmtheorie“, in: montage/av, 10 (2001) 2, S. 67–75.
Horwath, Alexander: „Singing in the Rain. Supercinematographie von Peter Tscherkassky“, in: Peter Tscherkassky, hrsg. von Alexander Horwath u. Michael Loebenstein. Wien: SYNEMA 2005, S. 9–48.
Rebhandl, Bert: „Sinliche Gewissheit. Zu Peter Tscherkasskys Film Happy-End“, in: Eine Geschichte der Bilder. Acht Found Footage Filme aus Österreich. Katalog, hrsg. von Alexander Dumreicher-Ivanceanu Wien: Polyfilm-Verleih 1996, S. 79–85. [http://www.tscherkassky.at/inhalt/films/dieFilme/Happy-End.html]
Tscherkassky, Peter: „Epilog, Prolog“, in: Peter Tscherkassky, hrsg. von Alexander Horwath u. Michael Loebenstein. Wien: SYNEMA 2005, S. 101–160.
Von Reden, Sven (Reg.): Peter Tscherkassky. Kino aus der Dunkelkammer. WDR 2012.