Titel | Meteor |
Autorschaft | Matthias Müller und Christoph Girardet |
Datum | 2011 |
Land | Deutschland |
Technische Daten | 35-mm-Film oder HD-Loop, Farbe u. Schwarzweiß, Ton, Länge: 15 Min. |
Mediales Genre | Bild-Ton-Text-Montage |
Bereich | Experimentalfilm |
Ausgangsmaterial | Bild: 39 Kino-Dramen unterschiedlicher Genres (Coming-of-Age, Science-Fiction, Thriller, Erziehungsfilm) Ton: Giacomo Puccinis Einakter Suor Angelica (1918) in der Aufnahme von 1957 aus dem Teatro dell’Opera di Roma mit der Sopranistin Victoria de los Ángeles Erzählerstimme: John Smith; Text: Märchen der Brüder Grimm und Hans Christian Andersens |
Quelle |
Matthias Müllers und Christoph Girardets Experimentalfilm Meteor (2011) präsentiert Material aus Kinofilmen, Märchentexten und einer Oper – verdichtet zu einem 15-minütigen Found-Footage-Film, der einem Meteoritenschwarm gleichkommt: Gezeigt werden filmisch kleinste Bruchteile von wenigen Sekunden Dauer, die aus einst bekannten Spielfilmen unterschiedlicher Genres losgeschlagen und von ihrer originär-narrativen Funktion befreit wurden. Eingefasst in einen komplexen Montageverbund entfalten die approbrierten Fundstücke eigenständige ästhetische Wirkmächtigkeit.
Meteor (Ausschnitt 1:07 Min.),
Courtesy: Matthias Müller und Christoph Girardet
Das filmische Material des Meteor-Remixes wurde aus einer umfangreichen Sammlung ausgewählt: bestehend aus einem amerikanischen Erziehungsfilm über menschliche Angst (Don’t Be Afraid 1953), einem populärwissenschaftlichen russischen Dokumentarspielfilm (Der Weg zu den Sternen 1958) sowie 37 weiteren Spielfilmen aus Frankreich, den USA, Großbritannien, Italien, Schweden, der BRD, Japan, der UDSSR und CSSR – allesamt aus dem Zeitraum zwischen 1933 und 1969 mit einer Gesamtdauer von über 57 Stunden. Nach motivischen und bildästhetischen Kriterien selektiert sind die Filmausschnitte sowohl den Meilensteilen des Film Noir und des Autorenkinos entnommen als auch den Science-Fiction-Kinospektakeln, die in den 1960/1970er Jahren als kulissenstarke Leinwand-Erlebnisse gegen die junge Attraktion der häuslichen TV-Film-Unterhaltung konkurrierten. Kombiniert haben Girardet/Müller die kosmischen Abenteuer (z.B. Der Himmel ruft 1959, R 3 überfällig 1954) mit Bebilderungen von Alltagsmomenten aus der einsamen und sehnsuchtsvollen Welt heranwachsender Knaben (z.B. Emil und die Detektive 1954, Les quatre cents coups 1959). Diese visuellen Präparate überspannen zwei in der Mitte des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich relevante Schauplätze und zwei thematisch weit voneinander entfernte Felder – das des lebensnahen sozialen Jugenddramas und das der nationalgeprägten Weltraumkolonialisierungsfantasien.
In szenischer Variation zeigt Meteor, wie sich die jungen Protagonisten schützend die Bettdecke über den Kopf ziehen, konzentriert in einer Beschäftigung aufgehen, Ausschau halten oder das Bewusstsein verlieren, weil das, was sie erblicken, entsetzlich stark auf sie einwirkt, oder ihre Widerstandskraft in anderer Weise erschöpft ist. Ob sie träumen, lernen, ob sie nach Luft ringen oder Zuflucht in der Dunkelheit suchen – die Kinder werden stets von einer lieblosen Kamera beobachtet.
Diese bis auf wenige Ausnahme alle in Schwarzweiß gehaltenen und als Nahblick sequenzierten Darstellungen einzelner Jungs sind im Wechsel mit Totalen und Halbtotalen aus farbgesättigten Filmzitaten früher Weltraumfiktionen geschnitten: Himmelskörper als leuchtstarke Kugeln, Raketenfahrten, Sternkollisionen und Astronauten, die als winzige und wenig geschützte Püppchen ebenso Grenzenlosigkeit illustrieren, wie sie die Verlorenheit der Kinder metaphorisch reflektieren.
Dieses typologisch gesammelte Bildmaterial bringen Girardet/Müller in eine neue konsekutive Ordnung, die den Eindruck von Linearität erzeugt. Mikrostrukturelle Verbindungen werden dabei über vielfache Korrespondenzen in Bildaufbau und den filmischen Bewegungsverläufen hergestellt. Die selektierten Fragmente, von denen einige mehrfach verwendet werden, folgen einer reduzierten kontrastiven rot-blauen Farbpallette. Übernommen in originalem Schwarzweiß oder in Farbe, bisweilen zu Graustufen farblich entsättigt, im Bildkader beschnitten und teilweise mit Rückwärtsverlauf montiert, ergeben die heterogenen Orignalsequenzen ein paradigmatisches Gefüge aus inhaltlichen Diskrepanzen und formalästhetischen Analogien: So etwa wenn auf den kindlichen Blick aus dem Zimmerfenster wenig später die Aussicht aus einem Raumschiff folgt, wenn kleinste Papierschnipsel aus einem fahrenden Zug heraus im Fahrtwind tänzeln (Les Amitiés particulières 1964) und später aus dem Dunkel des Weltalls ein weißgeflockter Meteoritenschwarm (Missile to the Moon 1958) vorüberrast; oder wenn sich schließlich der rote Planet Mars (The Angry Red Planet 1959) durch die folgende Sequenz eines roten Kinderluftballons (Le ballon rouge 1956) in diesen zu verwandeln scheint. Damit kommt den filmischen Teilstücken eine vor- und rückverweisende Funktion sowie ein optischer Spiegelungscharakter zu, was eine bildrhetorische Konstellation erzeugt, die über metaphorische oder assoziative Verbindungen für semantische Zusammenhänge weit geöffnet ist. Somit bietet Girardet/Müllers filmischer Remix ein dialogisches Angebot für subjektive Deutungen unter dem Motto Tell Me, What You See (vgl. Stuffer 2014) und kontrastiert mit dem Eisenstein’schen dialektischen Montage-Modell. Einsteins filmische Kunst der Kopplungen oder Attraktionsmontage verlangt zwar ebenfalls nach dem Assoziationsketten bildenden Zuschauer, doch beschränkt sich die zugebilligte Kreativität dort auf die intellektuelle Syntheseleistung des Dekodierens einer vermeintlich objektiven Botschaft, die sich innerhalb eines klassischen Sender-Empfänger-Ordnung vollzieht.
Die Art der Tonspurgestaltung forciert ihrerseits den filmischen Eindruck von mehrfach gebrochener Vielteiligkeit. Ursächlich daran beteiligt ist eine männliche Erzählerstimme, die im sonoren Fabelduktus ein Collage aus englischsprachigen Märchenzitaten (Hänsel und Gretel und Sterntaler der Brüder Grimm sowie Hans Christian Andersens Schneekönigin) vorträgt. Mit dieser Öffnung des medialen Referenzraums vom Spielfilm zur Märchenerzählung werden zum einen makrostrukturell die sichtbaren Momente kindlicher Ungeschütztheit und Verlassenheit im charakteristisch reduzierten Modus der Märchengattung noch einmal verstärkt. Zum anderen erhält der Märchenerzähler aufgrund der kulturellen Konnotation des Märchens als frühkindlicher Erzählform eine wichtige Schlüsselfunktion auf Ebene der Rezeption. Denn indem der Zuschauer die Märchenerzählung als kulturalisierendes und prägendes Mittel der eigenen Kindheit erkennt, lässt sich eine entsprechend emphatische kindliche Rezeptionshaltung aktivieren, die in Konkurrenz zu der bis dahin eingenommenen distanzierten Bildbetrachterrezeption tritt. Da die Erzählerstimme von John Smith in ihrer klaren und angenehmen Klangqualität gleichermaßen Vertraulichkeit wie Souveränität vermittelt, mag man sich von ihr zunächst narrative Gewährsinstanz erhoffen und eine zuverlässige Führung durch die fragmentierte und schnellschnittige Bildspur erwarten. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Stimme zwischen unterschiedlichen Märchentexten frei hin- und herspringt, wodurch überraschende Neufigurationen entstehen. Um die Märchenfiguren in Analogie zu den filmischen Protagonisten konsistent als Einzelkämpfer darzustellen, bleibt beispielsweise die Schwester in Hänsel und Gretel unerwähnt.
Dem Tempo der Bilderfluktuation erscheint die Erzählerstimme zudem kaum gewachsen; sie wird in gleichem Maße unterbrochen wie übertönt: Als Ton-Zwischenstücke oder akustische Layer werden neben dem Suor-Angelika-Motiv aus Giacomo Puccinis gleichnamiger Oper technische und menschliche Geräusche aus dem Spielfilmmaterial übernommen, die oftmals von den Originalpassagen losgelöst fremden Sequenzen zugewiesen sind.
Obgleich das Gebrochene als ästhetisches Prinzip visuell und auditiv konstituiert ist, bleibt die Sprache in ihrer Bedeutung als scheinbar kognitiver und imaginärer Verständnisschlüssel vordergründig präsent. Zum einen sind vom Erzähler Stichwortanweisungen zu hören wie z.B. drown, down, […] bright, bread, bed, boy. Diese sich inhaltlich sehr, jedoch phonetisch nur gering unterscheidenden Wörter und teilweise wiederum mit Motiven der Bildebene übereinstimmenden sprachlichen Einheiten besitzen kohäsionsstiftende Funktion. Dabei obliegt den Schlüsselwörtern eine erwartungs-, assoziationssteuernde und bildanalytische Aktivierung des Zuschauers.
Zum anderen werden Sprache und die Bedeutung von Sprachkompetenz über ein Märchenfragment aufgerufen, das der Erzähler in Anlehnung an Die sieben Raben der Brüder Grimm vorträgt. In Girardet/Müllers Erzählvariante ist es einem kleinen Jungen nur unter Mühe möglich, die exotische Verständigungsweise aus dem Tierreich zu erlernen, die der Unkundige als unkontrollierbarer und flüchtiger Strom von Elementarteilchen wahrnimmt: „Some words […] floated like particles around him and collided with each other like meteors. Some even formed sentences and were swishing around“, kommentiert der Erzähler. So gewaltig die Anstrengung, die zum Erwerb der Sprache notwendig ist, so lohnenswert erscheint ihr Besitz, denn unter richtiger Verwendung soll die Sprache der Vögel ein wirksames Mittel gegen Angst sein. Die Verursacher von Angst bleiben bei Girardet/Müller unsichtbar und damit rätselhaft, wohingegen in den Ursprungsfilmen die Quelle des Fürchterlichen präsentiert wird. Da in den zitierten Sci-Fi-Filmen jedoch die größte Bedrohung für Rakete, Raumschiff und Besatzung mehr oder weniger explizit von einem gefürchteten Meteor oder Meteoritenschwarm ausgeht, lässt sich diese Gefahrenquelle über den filmischen Titel motivisch oder metaphorisch rückbinden. Bedenkt man in ähnlicher Weise die Lücken des Films ergänzend, dass Raben und Krähen in der Mythologie und in Märchen als kluge Tiere beschrieben werden, die nicht nur gierig unterwegs auf der Suche nach Futter sind, sondern u.a. verirrten Wanderern wegweisend und mit Ratschlägen zur Seite stehen, fügt sich das Vogelmotiv als weitere semantische Facette des Films in den thematischen Strang des Unterwegsseins ein. Überdies lässt sich die Fabel von der märchenhaften Suche nach dem richtigen Wort, das deshalb das richtige ist, weil es magische Wirkung zum Vorteil des Sprechenden entfaltet, auch als versteckte künstlerische Selbstreflexion in Bezug auf den Umgang mit dem Material lesen: Wandelt sich doch das Footage unter dem gefräßigen Herauspicken und Einverleiben in ein visuelles Foodage.
Mit seiner kaleidoskopartigen Gesamststruktur ist Meteor ein Film bewegter Partikel, dessen Titel das zugrundeliegende Montage-Prinzip benennt. Wenn in der Konsequenz kleinste Ausschnitte aus der Film- und Märchengeschichte auf die Wahrnehmungsgrenze des Rezipienten zusteuern, so erzeugen die visuell-akustischen Funkenwerke semantische Kollisionen, Nachbilder und neue Einheiten an der montierten Fugenstelle und transportieren die Grundatmosphäre des Geheimnisvollen, die in der Umgebung der Heranwachsenden gleichermaßen wie für den Erwachsenen im Weltraum und den aufmerksamen Zuschauer oder kundigen Cineasten wahrnehmungsbestimmend ist. Entsprechend ergeht auch der für gewöhnlich an Leseanfänger gerichtete pädagogische Appell „Look at the picture, look at the word“, der von Girardet/Müller aus John Cassavetis‘ Kino-Drama A Child is Waiting (1963) filmisch übernommen wurde, indirekt und didaktisch klug an den Zuschauer.
Für die Ton- und Bildebene gilt gleichermaßen, was die Avantgarde-Filmemacherin Mildred (alias Chick) Strand (1931–2009) für ihren eigenen Umgang mit Found-Footage als Devise ausgab: „Nothing is sacred. You just rip it out of one context – or leave a couple of the little sub-contextual things in it – and mix up the whole thing with something else entirely: make up a context“ (zit. nach Wees 1993, 92–93). Girardet/Müllers komplexes Kontextexperiment lässt die Fundstücke jedoch an keiner Stelle gewaltsam aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen. Ganz im Gegenteil: Atmosphärische Kohärenz und formale Inkohärenz simulieren ein poetisches Traumgeschehen, das mit Sinn aufgeladen erscheint.
Anders als die filmischen Vorlagen, die in der Mehrzahl über eine dramaturgische Balance aus bedrohlichen Ereignissen, erlittenen Verlusten sowie Erfolgsfreude, Liebes- und Versöhnungsszenen verfügen und mit finalem Happy-Ending schließen, konzentrieren sich Girardet/Müller auf Bildkader, die in den Originalfilmen Momente der sozialen Kälte und der Bedrohung des Individuums durch körperfeindliche Umwelteinflüsse einfassen. Meteor bleibt trotz der melodramatischen Qualität des Ausgangsmaterials kitschfrei, da über die fragmentarische Erzählweise ein intensiver atmosphärischer Transfer stattfindet. Gleichzeitig wird damit aber auch eine Polysemantik installiert. Beispielhaft geschieht dies, wenn nach dem ersten Drittel des Films eine Abschiedsszene gezeigt wird, in der sich der kleine Junge (aus Michael Powells Peeping Tom, 1960) in das Schlafzimmer der verstorbenen Mutter begibt und die zarten Hände der Toten berührt. Nicht nur folgt dieser weiß-dominierten lichtstarken Einstellung ein filmischer Moment, der als formale Negativfolie zum zuvor sichtbaren Arm der Toten einen im Bilddunkel aufleuchtenden geschweiften Meteor zeigt. Der Märchenerzähler kommentiert diese Verlusterfahrung mit dem Bildungszitat „All’s well that ends well“ aus Shakespeares gleichnamigen Drama, womit für diese Szene zwei inkongruente Perspektivierungen eröffnet werden und ein signifikantes Zäsurelement in der Gesamtstruktur von Meteor markiert ist. Entgegen der konventionellen Happy-End-Logik erweist sich die Aussage des Märchenerzählers nicht nur an dieser Stelle als falsche Beruhigung. Vielmehr wird letzlich das erzählerische Prinzip des Endes in Meteor insgesamt aufgekündigt.
Das Motiv der Mutter-Sohn-Konstellation noch einmal aufnehmend bietet das Ende des Films einen inhaltlich offenen Ausgang: In vollständiger Länge und während des letzten Drittels des Films wird das bis dahin bestimmende fragmentarische Prinzip erstmals abgeschwächt, indem die Senza-Mamma-Arie aus Giacomo Puccinis Oper Suor Angelica (dt. Schwester Angelika) von 1918 vollständig erklingt. Das zuvor im Film eher unterschwellig zitierte musikalische Motiv wird in der Arie klangvoll entfaltet und bildet Meteors dramaturgischen Höhepunkt. Aufgerufen wird mit dieser von Trennungsschmerz bestimmten Arie der musikalische Handlungsort eines italienischen Klosters des 17. Jahrhunderts – ein Ort der Verbannung für die von ihren Angehörigen bestraften Adelsfrau Angelica. Zu hören ist in italienischer Sprache, wie die Novizin Angelica im Kirchenraum des Klosters den Tod ihres 7-jährigen Sohnes beklagt und in exstatischer Trauer beschließt, ihm durch Selbstmord zu folgen. Der von orchestraler Musik begleitete Gesang der spanischen Sopranistin Victoria de los Ángeles gestaltet kein verzweifeltes Lamento, sondern zeichnet eine Figur im Moment leidenschaftlich erfüllter Sehnsucht nach Entgrenzung und Verbundenheit. Girardet/Müller wählten diese Aufnahme von 1954 passend zur zeitlichen Entstehung ihres Footage. Filmintern entwickeln sie kontrastiv zum vorausgehenden rapiden Montagetempo – und angepasst an die ruhige aber dynamische Musik – visuelle Einblicke in einen Raum kosmischer Weite und Schwerelosigkeit, in dem die bemannte Rakete, Himmelskörper und Astronautenkörper gemeinsam gleiten, schweben und in die Ferne entgleiten. Dieser magische Erfüllungsmoment bildet jedoch nicht das filmische Ziel. Ebenso wie sich die Montagearbeit zu Beginn als suggestive Hinführung zu dieser leuchtkräftigen apotheotischen Fantasie ausmachen lässt, ist der filmische Endpunkt wiederum irdisch bestimmt: Das von absoluter Stille und damit dem Fehlen einer menschlichen Stimme begleitete Schlusstableau zeigt wie zu Beginn des Films einen Jungen in Schwarzweiß, der nun auf unwirtlichem Grund stehend den suchenden Blick himmelwärts richtet.
Das Ende verweist damit auf den Ausgangspunkt des Films zurück, bildet einen Loop um den von kosmischem Licht erhellten Weltraum, den Girardet/Müller als Schallraum für die Stimme der Mutter und als vielfach schillernden profanen und sakralen Sehnsuchtsort aufzeigen. Hinzukommt, dass über die Montage der drei fiktionalen Modi von Märchen als imaginative Rückbewegung und Repräsentant des Vergangenen einerseits, mit Film und Oper als Repräsentant des Gegenwärtigen und Unmittelbaren andererseits sowie des Sci-Fi als Repräsentant des potentiell Zukünftigen ein ebenfalls unbegrenzter Möglichkeitsraum entworfen wird.
Bei einer werkimmanenten Betrachtung, die auf die von Girardet/Müller verwendeten Bilder fokusiert und die Inhalte der Originalfilme außen vor lässt, bietet Meteor ein visuelles Puzzle, das eine kollektive Kindheitsfantasie enthüllt. Gemäß dieses Traumskripts, das sich seit den 1950er Jahren über mehrere Generationen hinweg und flankiert von medialen Vorbildern regeneriert hat, gilt es, in der Rolle des männlichen Helden Abschied von der Mutter zu nehmen und die kühne Reise zu einem entfernten, noch nicht eroberten Planeten zu unternehmen, um dort nach unversehrter Landung die Konfrontation mit dem gänzlich Unbekannten zu wagen.
Doch ganz so wie ein Meteor ein Teilstück kosmischer Materie ist, das in seiner körnigen Struktur selbst ein Amalgam mit Einschlüssen unterschiedlicher metallischer Qualitäten darstellt, bietet Girardet/Müllers Meteor darüber hinaus ein dichtes kombinatorisches und strukturell offenes Werk, das auch interpretatorisch nicht zum Abschluss zu bringen ist. Den zeitgenössischen Rezipienten aktiviert der Film zu abwechselnd kühler Beobachtung und emphatischer Einlassung auf Fragen und Assoziation zu Abschied und Bewegung, Abspaltung, Offenheit für unterschiedliche Richtungen und den nächsten Schritt sowie den erinnernden Rückblick auf die eigene Sehnsuchtsgeschichte. Allusionen auf Empfängnis und Geburtsvorgang lassen sich in diesem Film über interstellare Explosion ebenso erkennen wie eine männlich perspektivierte Geschichte eines kulturellen Coming-of-Age der 1960er Jahre. Im ästhetischen Miterleben bewirken die kombinatorischen Setzungen aus graven Stimmungszitaten und überdreht-wilder Weltraumfantasie nicht nur eine magische Erleichterung. Als Experiment konterkarieren sie das Genre des Tech-Noir – als eine andere Verbindung aus Elementen des Film Noir und des Sci-Fi.
Da die beiden Experimentalfilmkünstler eine Produktionstradition aufgreifen, bei der auf die eigene Kamera verzichtet wird, und in ihrer sezierenden Auseinandersetzung mit dem Kino-Erbe zugleich Ausschnitte verwenden, die den Sehsinn über eine Vielzahl visueller und optischer Medien adressieren (Fotografie, Spiegel sowie das Licht von Scheinwerfer, Taschenlampe, Filmprojektor und Fernsehröhre), lässt sich der Film medienreflexiv u.a. auch als Metapher für das Erleben des Kinoraums lesen: In dessen Dunkelheit mutiert der Zuschauer durch die Bannkraft des gestalteten Filmlichts und die Eindringlichkeit technisch produzierter Bilder gleichsam zu einem regressiven alter Ego der blickfaszinierten kleinen Protagonisten des Meteor. Girardet/Müller lassen mit Meteor die im Film Noir eher Nebenrollen spielenden Kinder zu Hauptdarstellern werden, indem sie die jugendliche Befindlichkeit aus bekannten Beispielen vorführen sowie weiteres Filmmaterial der Stilistik des Abgründigen zuführen – und mit dieser Komposition den Rezipienten seiner eigenen Befindlichkeit überführen.
Dass der Film von der Jury der Filmbewertungsstelle einstimmig mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet wurde, erscheint konsequent. Wer könnte dem mit Meteor so verführerisch gesendeten Appell widerstehen: mit Eigensinn einmal genau hinzusehen. Wenn Girardet/Müller die Zuschauerschaft aus der Enge scheinbar bekannter Filmwelten mit Meteor in die ungeschützte Weite filmbildnerischer Kombinatorik entlässt, bei der es plötzlich so scheint, als vollziehe sich das Erblicken zum ersten Mal, mag sich auch das melancholische Erkenntnismoment aufdrängen, dass die subjektiv gefühlte Distanz zu dem enormen Fundus an bereits bestehenden Bildern unaufhaltsam und schneller denn je größer wird.
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