Titel | Sleeveface |
Autorschaft | Carl Morris |
Datum | 2007/2008 |
Mediales Genre | Inszenierte Fotografie |
Bereich | Popkultur |
Ausgangsmaterial | Hüllen von Vinyl-Langspielplatten mit Künstlerporträts |
Quelle |
Sleeveface ist der Genrebegriff für eine Form inszenierter Fotografie. Geprägt wurde der Begriff 2007 von dem Waliser Carl Morris, nachdem er bei einer DJ-Performance die Hüllen (engl. sleeve) von Vinylplatten, auf denen die Porträts von Popkünstlern abgebildet waren, vor sein Gesicht gehalten und Freunde diese Maskierung fotografiert hatten.
Seit 2008 hat sich die Bildformel über diverse Social-Media-Plattformen (Facebook, Twitter, Flickr, Pinterest) zu einem populärkulturellen Phänomen entwickelt; die Initiatoren (Carl Morris, John Rostron) wiederum kuratieren kontinuierlich unter der Domain www.sleeveface.com Webpräsentationen von Sleeveface-Fotografien. Zwar lassen sich schon für die Zeit vor der Begriffsprägung einzelne Vorläuferphänomene finden, diese bewirkten jedoch keine partizipatorisch-massenkulturellen Effekte.
Entstanden aus der Party-Szene dokumentieren die frühen Beispiele spontane Performances, bei denen noch wenig Sorgfalt bei der Inszenierung zu erkennen ist. Bis heute hat sich die Bildformel zu teilweise raffinierten Montagen aus Kostümierung, Gestik, Ambiente und Plattenhülle entwickelt, mit denen ikonografische Kommentare auf historische Pop-Ästhetiken transportiert werden: Indem das Coverbild aus seinem kulturellen Kontext genommen und neu figuriert wird, entstehen Satiren, Hommagen, Reflexionen, Witze und vor allem groteske Hybridkörper.
Formal besteht die Herausforderung darin, die Vorgaben des zweidimensionalen Hüllendesigns in eine nahtlos erscheinende Kombination mit dem Körper des Performers zu bringen. Die Fotografie als 2D-Medium wird als Bühne für zentralperspektivische Illusionen genutzt: Wird mittels geschickter Platzierung und unter Beachtung der anatomischen Größenverhältnisse das Bild erster Ordnung (Coverfoto) vom Bild zweiter Ordnung (Sleeveface-Foto) assimiliert, entstehen Trompe-l’œil-Effekte. So sehr diese gesucht werden, so sehr werden sie im gleichen Zuge bewusst unterminiert: Nicht nur Typografie und grafische Schmuckelemente auf dem Cover bleiben sichtbar; vor allem die Hand, die das Plattencover vor den Körper hält, fungiert als deiktisches Element, das auf die Gemachtheit des Bildes verweist. Dass zuweilen die andere Hand zur Unterstützung der szenischen Fiktion genutzt wird, bestätigt die intendierte ästhetische Rissigkeit des Genres. Unter Performativitätsperspektive lässt sich diese Strukturbesonderheit als Synchronität zweier Rollen beschreiben: Zur Aufführung gebracht wird der doppelte Körper – der inszenierende und inszenierte Körper –, der sich mit einem dritten, dem Körper des Coverporträts, vereinigt. Das Schwanken zwischen der theatralen, maskierenden Performance und der ausgestellten Collage-Technik ist das genretypische Merkmal der Sleeveface-Fotografie.
Sleeveface ist auf der ersten offensichtlichen Bedeutungsschicht eine spielerische Beschäftigung mit einem toten Medienformat. Mögen auch weiterhin Vinylplatten produziert werden, längst haben Digitalträger (CD, MP3-Player) die Langspielplatte obsolet werden lassen. Entsprechend sind die Coverästhetiken als museal zu klassifizieren, die Auskunft über vergangene Pop-Epochen geben. Der Remix in der inszenierten Attitüde kann in gleichem Maße als spaßige Revitalisierung wie als melancholisches Echo auf einen Verlust oder als karikierende Stilcharade aufgefasst werden. Das poploristische Umfrisieren kulturindustrieller Hüllen-Designs folgt dem, was Michel de Certeau „Kombinationskunst“ und „Kunst im Ausnützen“ (de Certeau, 16) nennt. Im Falle von Sleeveface werden die verbrauchten Star-Images der Kulturindustrie benutzt, um diese durch ameisenhafte Emsigkeit von ihrer nostalgischen Autorität zu befreien. Der Star, per se auf Ikonizität und Vor-Bildlichkeit getrimmt, wird nun in einem vergnüglichen, leichtsinnigeren Spiel mit Identitätsbricolagen konsumiert.
Die populärkulturelle Zerlegungs- und Neufigurierungskreativität, die sich vor allem des Körpers als Ort manipulierbarer und kombinierbarer Zeichen bedient, hat ihren Ursprung nicht nur in einer synchron zu bestimmenden Mediensituation, sie ist ohne Rekurs auf eine bedeutsame Vorgeschichte nicht angemessen zu verstehen. Mit der Bestimmung der Sleeveface-Fotografie als Hybrid aus Theatralität und Collage-Ästhetik werden unterschiedliche historische Horizonte aufgerufen: Einerseits fußt das Genre auf der bis in die Antike zurückreichende Maskerade, aber auch auf dem Tableau vivant des 18. und 19. Jahrhunderts sowie dem Posing, das traditionell zu allen Formen des Porträts gehört. Wichtiger jedoch ist die Collage-Tradition des Dadaismus. Generell ist Peter Sloterdijk zuzustimmen, der für die Jetztzeit eine „Vermassung der vormaligen Avantgardequalitäten“ und „die Übersetzung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Manipulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen einer weltumspannenden Design-Zivilisation“ (Sloterdijk, 141) erkennt. Die Dada-Collagen von beispielsweise Raoul Hausmann, Hannah Höch, John Heartfield und Max Ernst, die zu einem großen Teil hybride Körper zeigen, liefern die Methodenvorbilder für Sleeveface. Die Denaturalisierung entspricht einer Strategie, die konventionalisierten Körperzeichen umzudeuten und ideologische Gewissheiten anzugreifen. Mit den grotesken Bildkörpern wird ein anti-autoritäres Grundgefühl kommuniziert, das sich im Medium der Collage bis heute vererbt.
Die Body-Mix-Collagen (1991–1992) von Christian Marclay verdienen in diesem Sinne hervorgehoben zu werden, da sie als Übergangsphänomen zu Sleeveface betrachtet werden können: Das Material dieser Collagen besteht ausschließlich aus Plattenhüllen, die in der Zusammenstellung wunderliche Patchwork-Körper ergeben. Ähnlich wie die Avantgarde-Künstler, die das Menschenbild von seinem repräsentativen Illusionismus befreien und ihr Material in der visuellen Massenkultur ihrer Zeit finden, gehen auch die Sleeveface-Fotografen vor: In den anti-authentischen Produktionen werden Männerköpfe auf Frauenkörper gepfropft, Epochen vermischt, Stile durcheinandergebracht.
Wie am Beginn des 20. Jahrhunderts die medienkulturelle Entwicklung die künstlerische Produktion beeinflusst hat, so ist auch Sleeveface nicht unabhängig von der Medienevolution nach Erfindung des Internet zu betrachten. Die Tatsache, dass die Verbreitung eng mit dem Aufstieg von Facebook verknüpft ist, besagt nicht nur, dass ein neuer Kanal erfolgreich genutzt wurde. Das soziale Netzwerk ist das erfolgreiche Symptom für eine generelle Tendenz: Das Internet stellt eine Plattform dar, auf der die medialisierten Subjekte wie nie zuvor in der Geschichte Selbstdarstellungen realisieren können. Ob diese durch die Außenwelt wahrgenommen werden oder nicht, ist unerheblich; entscheidend ist das spiegelhafte Feedback für den individuellen Psychismus. Das Subjekt verschafft sich durch die multimedialen Veräußerlichungen eine ästhetische Existenz, eine symbolische Haut ohne Körper. Die sowohl situativen wie längerfristigen Selbstdesigns entkoppeln sich von der Möglichkeit der Nachprüfbarkeit durch die Rezipienten und des Abgleichs mit der fleischlichen Präsenz des Subjekts. Was Identität genannt wird, ist nicht selten ein Spiel mit Pseudonymen – namentlichen und ikonografischen. Die Maskeraden in der Sleeveface-Fotografie laufen gleichsam parallel zu den künstlichen Repräsentationen der Netzwerk-Nutzer und werden lesbar als ludische Fortführung, vielleicht gar als Meta-Praxis innerhalb der digitalen Selbstdarstellungskultur. Der Rückgriff auf das Star-Design und auf ein obsoletes Medium sowie die ausgestellte Künstlichkeit mögen auch ein Versuch sein, im kreativen Unernst den Dienst an den Identitätsillusionen zu verweigern.
De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988.
Morris, Carl und John Rostron: Sleeveface. Sei Deine Schallplatte! Hamburg: Hoffmann und Campe 2009.
Morris, Carl und John Rostron: Sleeveface. Be the Vinyl. New York: Workman Publishing 2008.
Sloderdijk, Peter: „Das Zeug zur Macht. Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz“, in: Der ästhetische Imperativ. Hamburg: Philo Fine Arts 2007, S. 138–161.